Eine persönliche Aufarbeitung der Familiengeschichte
2019 erschien das Buch „Die Stasi, der König und der Zimmermann. Eine Geschichte von Verrat“. Der Thüringer Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur förderte die Publikation mit einem Druckkostenzuschuss. Am 9. Mai 2019 feierte das Buch in Erfurt seine Premiere. Im September 2019 las die Autorin Petra Riemann aus der Publikation an der alten Wirkungsstätte ihres Vaters, am Meininger Theater. Die für 2020 geplanten Lesungen mit dem Thüringer Landesbeauftragten mussten aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Am 28. April 2021 lud der Landesbeauftragte dann zu einer Online-Buchlesung mit Petra Riemann ein.
Die Lesung und das anschließende Gespräch mit Petra Riemann und ihrem Mann Torsten Sasse fand zahlreiche Interessierte. Zu Beginn der Lesung führte der Landesbeauftragte mit markanten Bildern in den Inhalt und die Entstehungsgeschichte des Buches von Petra Riemann ein. Im Buch erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Familie und ihres Vaters, des bekannten DDR-Schauspielers Lutz Riemann.
Lutz Riemann debütierte in den 1960er Jahren am Meininger Theater, später wirkte er auf den Bühnen in Weimar, Neustrelitz und Berlin. In den 1980er Jahren wurde er in der DDR-Serie Polizeiruf 110 als knorriger Volkspolizei-Oberstleutnant Zimmermann zu einem Publikumsliebling. 2013 wurde bekannt, dass er für die Auslandsaufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit gespitzelt hatte. Als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) mit dem selbstgewählten Decknamen „Richard König“ arbeitete er beinahe 30 Jahre für die Geheimpolizei der DDR mit unterschiedlichen Aufträgen und für verschiedene Dienststellen. Bereits seit 1966 spann Lutz Riemann sein Netz unter Kolleginnen und Kollegen und im Kreis befreundeter Kunstschaffender in Thüringen. Er schaffte es, Freundschaften herzustellen und zu halten und sie gleichzeitig der Stasi zu verraten. Er konnte, so schreibt es Petra Riemann in ihrem Buch, empathisch sein, ohne Empathie zu haben. Als er dann 2013 aufgrund eines Zeitungsartikels der WELT aufflog, gab er seine Tätigkeit als IM unumwunden zu. Seine Enttarnung war im Grunde ein Kollateralschaden: Eigentlich bezweckte die Zeitung, den damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück in die Nähe der Stasi zu rücken: Lutz Riemanns Ehefrau ist die Cousine von Peer Steinbrück.
Die Enttarnung Lutz Riemanns als Stasi-Spitzel traf vor allem seine Familie. Zwar hatte der Vater bereits 1999 gegenüber der Tochter seine Tätigkeit für die Auslandsaufklärung zugegeben: Er schob ihr bei einem Bootsausflug einen kleinen Zettel mit dieser Information zu. Aber es gab kein Gespräch hierüber. Es herrschte Sprachlosigkeit, auch bei Petra Riemann. Nach dem Artikel in der WELT im Jahr 2013 begann Petra Riemann sich zu erinnern: An ihre Kindheit, ihren Vater, die Freunde des Vaters, die Besuche von Onkel Peer (Steinbrück) in Meiningen und sie wollte wissen, wie alles zusammenhing. Ihr Mann Torsten Sasse, liebevoll der „kleine Imperialist“ genannt, weil geboren im Westen, mit fragendem Blick auf das Leben im Osten, half ihr dabei. So entstand ein Buch, das drei Ebenen miteinander verbindet: Die Recherche zu Lutz Riemann alias IM „Richard König“ in den Akten der Behörde für Stasi-Unterlagen. Ein Zwiegespräch zwischen Petra Riemann und ihrem Ehemann über die eigene Vergangenheit in der DDR. Und die kommentierende Einordnung dieser beiden Erinnerungsquellen in die Erzählung eines Lebens in der DDR und des Wirkens eines IM gegenüber seinem Umfeld.
Im Vorfeld der Veranstaltung haben die Autorin und ihr Mann im Dialog die abwechslungsreiche und kurzweilige Lesung als hochwertiges Video aufgenommen. In der Online-Buchlesung am 28. April wurde dieses Video nach der Einführung abgespielt. Anschließend richteten die Teilnehmenden und der Moderator Fragen an Petra Riemann und Torsten Sasse. Es zeigte sich, dass vor allem die persönliche Aufarbeitung der Vergangenheit interessierte. Die Arbeit am Buch war für Petra Riemann sehr aufwühlend und zugleich befreiend. Sie fühlte sich lange verantwortlich, gar schuldig für die Taten ihres Vaters. Durch die Arbeit am Buch fand sie endlich aber auch Erklärungen für beispielsweise plötzlich abbrechende Familien-Freundschaften ihrer Kindheit. Bei ihren Recherchen stieß sie auch auf den Fall des langjährigen Familienfreundes Roger Nastoll. Der Thüringer Schriftsteller wurde mit dem Ziel der sogenannten Zersetzung über viele Jahre von verschiedenen IM bespitzelt. Auch Lutz Riemann berichtete der Stasi über den Freund. Er baute ein Vertrauensverhältnis zu ihm auf, nutzte sogar seine Familie, um Informationen abzuschöpfen. Während der Aufarbeitung ihrer Geschichte traf Petra Riemann zum Glück auf aufgeschlossene Angehörige und Betroffene, die ihr halfen, die eigene Vergangenheit zu rekonstruieren.
Die Fragenden in der Gesprächsrunde versuchten auch die Motive von Lutz Riemanns IM-Tätigkeit zu ergründen: Warum stellte er sich in den Dienst der Stasi? Wurde er womöglich zur Mitarbeit erpresst? Wie schätzten seine Führungsoffiziere seine Arbeit ein? In den Stasi-Akten konnte die Autorin nichts Entlastendes über ihren Vater finden. Er selbst äußerte, aus weltanschaulicher Überzeugung, als überzeugter Kommunist gehandelt zu haben. Schlussendlich wurde die Frage gestellt, ob Petra Riemann ihrem Vater verzeihen kann. Sie könne ihm eventuell verzeihen, aber erst nach einem Gespräch mit ihm. Bislang lehnte der Vater aber ab, mit der Tochter über seine Taten als IM des Ministeriums für Staatssicherheit zu sprechen.
Die Resonanz auf die Veranstaltung war groß, daher wird die Online-Buchlesung mit Petra Riemann am 15. Dezember 2021 erneut durchgeführt. Anmeldungen hierfür bitte unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!